Governance-Report

Einleitung

Der BTI 2022 stellt erneut erhebliche Rückschritte in den Transformationsprozessen weltweit fest. Die Leitbilder von Demokratie und Marktwirtschaft stehen unter starkem Druck und werden durch korrupte Eliten, illiberalen Populismus und autoritäre Herrschaft herausgefordert. Erstmals führt der Transformationsindex mehr autoritär als demokratisch regierte Staaten auf. Noch nie sind in den letzten zwanzig Jahren sozioökonomisches Entwicklungsniveau und Wirtschaftsleistung im BTI so niedrig bewertet worden. Auch die Regierungsleistungen nehmen weiter ab, insbesondere in den konsensbezogenen Aspekten von Governance.

Dieser neue Tiefstand ist sowohl das Ergebnis der weltumspannenden Coronakrise wie auch einer Fortsetzung von seit Längerem andauernden globalen Trends. Aufgrund der hohen Zahl von Infizierten und Toten weltweit, der schwerwiegenden Belastung der Gesundheitssysteme und Staatshaushalte sowie der zusätzlichen Herausforderungen an gutes Regieren stellte die COVID-19-Pandemie einen extremen Stresstest dar und prägte die zweite Hälfte des Untersuchungszeitraums.

Alle Untersuchungsdimensionen des BTI auf Tiefstand | Durchschnittswerte von 128 Ländern, BTI 2012-2022

Die pandemiebedingten Rückschläge verstärken Fehlentwicklungen und Problemlagen, die bereits das zurückliegende Jahrzehnt gekennzeichnet hatten. Die aktuellen Verschlechterungen auf dem Weg zu guter Regierungsführung (im globalen Durchschnitt -0,07 Punkte auf der BTI-Zehnerskala) sind aufgrund ihrer hohen Aggregierung zwar nicht unerheblich, aber an sich nicht gravierend. Ihren alarmierenden Charakter erhalten sie als vorläufig letzter Knick einer kontinuierlichen Abwärtsentwicklung, die von stetig wachsender Korruption und Konfliktintensität gekennzeichnet ist.

Ineffizienz und Korruption

In den letzten Jahren waren es nie mehr als zehn Regierungen, denen im BTI eine sehr gute Governance attestiert werden konnte. Im BTI 2022 umfasst diese Gruppe lediglich sieben Länder: die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die drei lateinamerikanischen Länder Chile, Costa Rica und Uruguay sowie Taiwan. Die herausragenden Governanceleistungen in diesen Ländern haben sich auch nach Regierungswechseln und in Krisensituationen bestätigt, sodass die Mehrheit von ihnen im letzten Jahrzehnt durchgängig als sehr gut regiert betrachtet wurde. Costa Rica, seit langem mit guter Governance, stieß erstmals in die Top-Kategorie vor, da die Regierung von Präsident Carlos Alvarado wichtige Reformen für eine nachhaltige Finanzpolitik umsetzen konnte.

Die große Mehrheit der 137 im BTI untersuchten Staaten wird hingegen nicht gut regiert, und der Trend ist weiter rückläufig. Bis zum BTI 2018 umfasste die Gruppe der Länder mit sehr guter oder immerhin guter Governance stets ein Drittel oder mehr des Ländersamples. Diese im BTI 2022 von Taiwan bis El Salvador reichende Gruppe ist nunmehr auf ein gutes Viertel geschrumpft. Erstmals wird mehr als 100 Ländern eine nur mäßige bis gescheiterte Regierungsführung bescheinigt.

Schwachstelle von Regierungshandeln bleibt die Effizienz, sowohl beim Einsatz verfügbarer Ressourcen wie auch bei der Politikkoordination und vor allem bei der Antikorruptionspolitik, die erneut den schlechtesten aller im BTI bewerteten Governance-Aspekte darstellt. Der diesbezügliche BTI-Indikator ist weltweit um weitere 0,14 Punkte auf einen Mittelwert von 4,16 gefallen. Der globale Durchschnitt entspricht damit in etwa einer Regierung, die nur sehr begrenzt willens und fähig ist, Korruption überhaupt einzugrenzen, auch weil die wenigen von ihr eingerichteten Integritätsmechanismen nicht greifen. 33 Regierungen wie in der Mongolei, Kenia, Panama oder Saudi-Arabien liegen auf diesem Niveau, 53 Regime sogar noch darunter.

Die von Autokratien wie China bemühten, vermeintlichen Vorzüge einer staatskapitalistischen Entwicklungsdiktatur mit Blick auf effizientes Regieren und damit auch eine wirksame Antikorruptionspolitik lassen sich durch den BTI nicht bestätigen. Insgesamt sind es lediglich 28 Regierungen, die sich der Korruptionsbekämpfung ernsthaft widmen und mit leidlichem (6 Punkte) bis zu gutem (9 Punkte) Erfolg Integritätsmechanismen installiert haben. Unter ihnen finden sich nur vier Autokratien, die drei Golfstaaten Katar, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mit einer mäßigen Bilanz sowie Singapur mit guten Ergebnissen. Von den 53 Ländern hingegen, in denen korrupte Praktiken quasi ungestraft durchgeführt werden können (1 bis 3 Punkte), werden 44 autokratisch regiert. Mehr als die Hälfte dieser 53 hochkorrupten Staaten ist auf dem afrikanischen Kontinent zu finden, auf dem lediglich Südafrika (6 Punkte) und Botswana (7 Punkte) positive Ausnahmen darstellen.

Antikorruptionspolitik in Demokratien und Autokratien | Anzahl der Länder pro Bewertungsstufe, BTI 2022

Insgesamt klafft zwischen Demokratien und Autokratien eine erhebliche Effizienz- und Steuerungslücke. Statt im Sinne einer propagierten, gut funktionierenden Entwicklungsdiktatur zügig und effektiv agieren zu können, fällt die autokratische Politikkoordination gegenüber Demokratien ab (-1,69), der Einsatz verfügbarer Ressourcen ist deutlich ineffizienter (-1,85) und die Diskrepanz zwischen autokratischer und demokratischer Antikorruptionspolitik ist besonders groß (-2,14). Auch wenn nur wenige autoritäre Regierungen ihre Effizienzversprechen einlösen können und Autokratien durchschnittlich in allen Outputbelangen weit hinter den Demokratien zurückbleiben, so dient diese Scheinlegitimation der Untermauerung eines weiteren Trends der letzten Jahre, der sukzessiven Verhärtung autoritärer Herrschaft.

Auch die Fähigkeit der Politikgestaltung, also das Setzen von strategischen Prioritäten, die Umsetzung der Regierungsagenda sowie die Flexibilität und Lernfähigkeit ist in Autokratien erheblich schwächer ausgeprägt (-1,91). Trotzdem haben in diesem Bereich einige wenige Autokratien im BTI 2022 teils deutlich hinzugewonnen. Dies sind vor allem Singapur, die VAE, Katar, China und Vietnam, sowie mit Abstrichen auch Marokko und Kuba.

Ihre besseren Governance-Werte sind allerdings nicht auf eine sprunghaft optimierte Gestaltungsfähigkeit zurückzuführen, sondern auf eine methodische Änderung im Transformationsindex. Bislang hatte der BTI hinsichtlich dieses Kriteriums, das Priorisierung, Implementierung und Lernfähigkeit umfasst, für Autokratien eine Maximalbewertung von 5 Punkten pro Indikator festgelegt. Damit sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass gut regierte Autokratien zwar strategisch planend eine Hälfte der normativen Leitbilder des BTI, also eine sozial inklusive Marktwirtschaft, verfolgen können, ihre regierungsinternen Organisations- und Planungsmuster aber der anderen Hälfte, der rechtsstaatlichen Demokratie, entgegenstehen und sie insofern auch nur die Hälfte der verfügbaren Punktzahl erhalten sollten. Dadurch konnten jedoch die Governance-Leistungen von strategisch gestaltenden Autokratien wie Singapur oder den VAE nicht numerisch, sondern nur unter Bezugnahme auf die Ländergutachten, mit mäßig planenden und umsetzenden Ländern wie Aserbaidschan oder Mexiko verglichen werden. Auch die Möglichkeiten eines umfassenden Governance-Vergleichs zwischen Demokratien und Autokratien wurden dadurch eingeschränkt. Dieser BTI beendet diese Bewertungspraxis. Er kann nun die bis-herigen Annahmen hinsichtlich der Gestaltungsfähigkeit von Autokratien bestätigen: auch mit systemneutraler Bewertung kommen 53 der 70 autoritären Regierungen in keinem der drei Indikatoren auf einen Punktwert über 5.

Governance in Pandemiezeiten

Mit einer systemneutralen Bewertung von planerischen und strategischen Gestaltungsprozessen kann der BTI 2022 auch auf die gerade zu Beginn der Pandemie häufig aufgeworfene Frage antworten, ob ein partizipatives demokratisches Regierungssystem oder umgekehrt eine dirigistische autoritäre Ordnung systemimmanente Vorteile hinsichtlich der Geschwindigkeit, Effizienz und Nachhaltigkeit im Krisenmanagement zur Eindämmung von COVID-19 hatte. Hier untermauert die aktuelle Untersuchung empirisch die frühen Mutmaßungen, dass per se weder Autokratien Effizienzgewinne durch rigidere Steuerung noch Demokratien Planungsgewinne durch eine konsultativere Praxis zukommen. Vielmehr geht es unabhängig vom Regierungssystem einerseits um die Kapazität und Fähigkeit zur strategischen Prioritätensetzung, abgestimmten Umsetzung und einer flexiblen Lernbereitschaft und andererseits um das Vertrauen, das die jeweilige Bevölkerung in ihre Regierung setzt.

Damit rückten die Aspekte von rationaler Evidenzbasierung von Politik, von effektiver Politikkoordination wie von überzeugender Krisenkommunikation in den Mittelpunkt. Der BTI bewertet die ersten beiden dieser Aspekte von jeher. Deren Zentralität für Pandemiemanagement macht nachvollziehbar, dass es in der Regel die generell im Governance-Index hoch bewerteten Regierungen waren, die auch am zügigsten und effektivsten auf COVID-19 und die Folgen reagierten. Im Kern schreibt die Qualität des Corona-Krisenmanagements die Erfolge und Misserfolge vorhergehender Governance weiter fort und platziert die meisten stabilen Demokratien im Konsolidierungsprozess wie insbesondere Südkorea, Taiwan und Uruguay sowie einige gut und straff regierte Autokratien wie Singapur, Vietnam und einige Golfstaaten am oberen Ende des Tableaus von Regierungsleistungen in Reaktion auf COVID-19.

Über diese allgemeine Auswertung hinaus können einige spezifischere Beobachtungen hinsichtlich des Krisenmanagements gemacht werden. Zum ersten bestätigte sich erneut die Bedeutung von politischer Lernfähigkeit, da die asiatischen und westafrikanischen Regierungen ihre Vorerfahrungen mit sich rasch ausbreitenden Viruserkrankungen (Vogelgrippe beziehungsweise Ebola) nutzten und zügig Gegenmaßnahmen trafen – im Unterschied zur chinesischen Intransparenz geschah dies in Westafrika unter dem Dach der ECOWAS in regional abgestimmter Weise.

Zum zweiten versagten gerade die Regierungen im Krisenmanagement, die von einer Evidenzbasierung ihrer Politik absahen und einen Handlungsdruck leugneten. Dies waren einerseits populistische Regime wie in Brasilien, Indonesien und Tansania, die Empfehlungen von Wissenschaftlern und Experten ignorierten und stattdessen Reinigungsmittel oder Gebete gegen das Virus empfahlen, aber ein koordiniertes Vorgehen gegen die Pandemie verweigerten. Wer politische Entscheidungen mit einem vorgeblich gesetzten Volkswillen ideologisch legitimiert und evidenzbasierte Begründungen sowie Rechenschaftslegung vernachlässigt, dem wird auch wenig an externem Rat, kontinuierlichem Monitoring und selbstkritischer Evaluation gelegen sein. Andererseits waren dies despotische Regime mit mangelndem Realitätsbezug wie in Nordkorea oder Turkmenistan, die die Existenz des Virus schlichtweg leugneten, oder ideologisch verbohrte Theokratien wie im Iran, die religiöse Massenversammlungen zunächst weiter gestatteten und es ablehnten, Impfstoffe aus westlichen Ländern zu bestellen.

Zum dritten waren Ungleichheit, ein großer informeller Sektor und ein ungenügender Zugang zum Gesundheitssystem wesentliche Treiber der Pandemie und stellten insbesondere hochgradig ungleiche Gesellschaften in Lateinamerika und dem südlichen Afrika vor zusätzliche Probleme, denen die Regierungen mit zumeist überharten und kontraproduktiven Lockdowns begegneten.

Zum vierten wurden bestehende Governance-Defizite dadurch illustriert, dass es zahlreichen Regierungen wie in Argentinien, Indien, den Philippinen, Südafrika oder der Türkei nicht gelang, ein angemessenes Mittelmaß zwischen schützenden Kontaktbeschränkungen und wirtschafts- wie sozialpolitisch elementaren Öffnungen zu ermitteln und zu koordinieren. In abgeschwächter Form gilt dies auch für zahlreiche ostmittel- und südosteuropäische Regierungen, die der ersten Pandemiewelle relativ gut begegneten, aber danach mit vorzeitigen oder zu langen Öffnungen die Infektions- und Todeszahlen in die Höhe schnellen ließen.

Schließlich ist als Lichtblick festzuhalten, dass sich die prognostizierte humanitäre Katastrophe in den meisten Teilen Afrikas nicht eingestellt hat, auch wenn die Dunkelziffer von nicht dokumentierten Infektions- und Todeszahlen hoch sein dürfte. Dies ist in Westafrika auf die umsichtige Nutzung von Vorerfahrungen zurückzuführen, da nach der Ebola-Epidemie institutionelle Strukturen geschaffen worden waren, die eine Koordination in Pandemiezeiten erleichtern. Bereits Mitte Februar 2020 trafen sich die Gesundheitsminister aller 15 ECOWAS-Länder, um ein gemeinsames Vorgehen zu besprechen und potenzielle Finanzierungsquellen der Maßnahmen zu aktivieren. Zudem scheint die Ausbreitungsgefahr des Virus, möglicherweise aufgrund des niedrigen Durchschnittsalters und anderer begünstigender Faktoren, nicht so ausgeprägt zu sein. Der eigentliche pandemische Schock in Afrika resultierte deshalb vor allem aus den wirtschaftlichen und sozialen Folgen von COVID-19.

Schwindender Konsens

In den letzten zwei Jahren sank erneut insbesondere die Qualität des Konfliktmanagements, da immer mehr Regierungen eine Eskalation von Konflikten nicht verhindern konnten oder sogar eine politisch gewollte Polarisierung und Zuspitzung von Konflikten betrieben. Dies traf vor allem auf Sri Lanka (-5 Punkte) zu, da die nach islamistischen Anschlägen gewählte ethno-nationalistische Regierung einen harten Kurswechsel vornahm und seitdem Versöhnungsprozesse zwischen Singhalesen, Tamilen und Muslimen aktiv untergraben und durch eine Militarisierungs- und Überwachungsstrategie ersetzt hat.

Aber auch ehemalige Hoffnungsträger Afrikas waren betroffen. Dies galt neben Benin (-2) insbesondere auch für Äthiopien (-2), wo Friedensnobelpreisträger und Premierminister Abiy Ahmed eine militärische Eskalation gegen die Bevölkerungsgruppe der Tigray herbeigeführt hat. Im ehemals demokratischen Guinea (-3) verhärteten sich alte ethnische Konfliktlinien nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Alpha Condé, der sich unnachgiebig und konfrontativ gegenüber der Opposition zeigte und Proteste und Demonstrationen mit exzessiver Gewalt niederschlagen ließ.

Abnehmende Deeskalation ging in 28 Ländern einher mit einer zunehmenden Ausgrenzung der Zivilgesellschaft von politischen Deliberationen und Entscheidungsprozessen. Dies war in den letzten zwei Jahren in keinem Land so ausgeprägt der Fall wie in Polen (-3), wo die Regierung sozialpartnerschaftliche Abstimmungsprozesse unterminierte und die internationale Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen unter Beobachtung stellte. Auch in Brasilien, El Salvador, Indien und Sri Lanka (je -2) nahmen die zivilgesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten im Untersuchungszeitraum stark ab.

Betrachtet man die stärksten Einbußen im Bereich der Konsensbildung seit Beginn des letzten Jahrzehnts, dann sind es die Einigkeit über die Transformationsziele sowie der Ausschluss anti-demokratischer Vetoakteure, die am deutlichsten zurückgegangen sind, mit jeweils über einem halben Punkt auf der Zehnerskala und somit im globalen Durchschnitt in sehr markanter Weise. Dies spiegelt sich in ebenfalls sinkenden Werten hinsichtlich der Akzeptanz demokratischer Institutionen durch die wichtigsten politischen Akteure. Mit einem aktuellen Minus von 0,36 Punkten im Durchschnitt der 67 Demokratien ist damit die Reduzierung oder Verweigerung einer aktiven Stabilisierung und Unterstützung der demokratischen Ordnung durch maßgebliche Teile der politischen Elite der stärkste demokratieuntergrabende Faktor der letzten zwei Jahre gewesen.

In 28 Ländern waren solche Rückschritte zu verzeichnen. Die Abkehr der Eliten von demokratischen Institutionen hat das letzte Jahrzehnt bis heute geprägt, mit einem Minus von rund einem halben Punkt auf der BTI-Zehnerskala. Auch die Zustimmung zur Demokratie seitens der Bevölkerung ist seit Beginn des letzten Jahrzehnts gesunken. Zahlreiche Ländergutachten betonen jedoch, dass dies keine generelle Abkehr von den Werten und Zielsetzungen der Demokratie darstellt, sondern eine Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis, mit Institutionen und Prozessen, ausdrückt.

Als bezeichnender Fall der Erosion des Akteurskonsenses hinsichtlich der Transformationsziele kann Ungarn gelten, als EU-Mitglied von einem hohen Niveau kommend, das es unter der seit 2010 regierenden Fidesz-Partei sukzessive und drastisch von 10 auf 4 Punkte eingebüßt hat. Ausschlaggebend sind hier weniger die normativen Differenzen hinsichtlich der Marktordnung, obwohl die ungarische Regierung auch diesbezüglich aufgrund von Klientelismus und verzerrtem Wettbewerb einige Rückschritte zu verantworten hat. Es sind vielmehr gezielte Schwächungen der rechtsstaatlichen Verfasstheit und der politischen Beteiligungsmöglichkeiten, die bezeichnend sind für populistische Regierungen, die sich das Mandat zuschreiben, alleinige Vertreter des selbstdefinierten Volkswillens zu sein.

Da die Treiber dieses autoritären Kurses sich in Regierungsämtern befinden, ist die Bewertung eines erfolgreichen Ausschlusses von antidemokratischen Akteuren in Ungarn entsprechend von 8 Punkten im BTI 2012 auf nunmehr nur noch 3 Punkte gefallen. Eine so umfassende Manipulation des politischen Prozesses einer ehemals stabilen Demokratie wie in Ungarn ist bislang unerreicht. Die Regierung Orbán befindet sich nur deshalb nicht unter den größten aktuellen Absteigern im Governance-Bereich, weil Ungarn schon im BTI 2020 als einzige Demokratie neben Bosnien-Herzegowina, Libanon und Lesotho als Land mit schwachen Regierungsleistungen eingeordnet worden war.

Das autoritäre Vorgehen Ungarns findet Nachahmer in anderen Ländern wie Brasilien, Indien, Polen und Serbien, die sich vor zehn Jahren ebenfalls noch im demokratischen Konsolidierungsprozess befanden und zu den deutlichsten Absteigern im aktuellen Governance-Index zählen. Deutliche Rückschritte konsensorientierten Regierens sind auch in Argentinien, El Salvador, den Philippinen, Slowenien und Sri Lanka zu verzeichnen, allerdings auf jeweils sehr unterschiedlichem Niveau. Im Vergleich zur kompromisslosen Drogenbekämpfung und der einhergehenden massiven Einschüchterung von Kritikern in den Philippinen oder der harten Ausgrenzung ethnischer Minderheiten und zivilgesellschaftlicher Akteure in Sri Lanka ist die Konsenserosion in den anderen drei Ländern noch als gemäßigter anzusehen. Dies betrifft die Konfrontation zwischen Peronisten und Anti-Peronisten in Argentinien, die sich im Zuge von Pandemie und strukturell bedingter Wirtschaftskrise erneut verschärft hat, die Missachtung etablierter Parteien und demokratischer Prozesse durch den salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele und den konfrontativen Stil des rechtspopulistischen slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša. Gleichwohl wird auch hier leichtfertig die Axt an ein demokratisches Gefüge gelegt, die in allen drei Ländern reale Einschränkungen bei Beteiligungsrechten und der Performanz demokratischer Institutionen nach sich gezogen hat.

Starke demokratische Institutionen und konsensorientiertes Regieren stehen in einem engen Zusammenhang. Dies zeigt sich insbesondere bei der Betrachtung von Governance-Profilen jener 15 Demokratien, die in den letzten zehn Jahren als prominenteste Backslider am stärksten in den demokratischen Kerninstitutionen Wahlen, Versammlungs- und Organisationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Bürgerrechte eingebüßt haben (Mittelwert ≥ 1,00 Punkte).

Das geschrumpfte Governance-Profil aus den Mittelwerten dieser 15 Backslider verweist deutlich auf die verschlechterte Konsensbildung. Die gesondert markierten Indikatoren in Abbildung 9 kennzeichnen die Governance-Leistungen, die binnen zehn Jahren im Durchschnitt dieser 15 Länder um mehr als 1,50 Punkte auf der BTI-Zehnerskala gesunken sind und somit besonders signifikant abgewertet wurden.

Es kennzeichnet zudem weitere bezeichnende Einbrüche in Regierungsleistungen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit, die auch für den aktuellen Untersuchungszeitraum gelten. Insbesondere die internationale Glaubwürdigkeit von Regierungen in Ländern mit starken Demokratieverlusten hat in den letzten zwei Jahren weiter gelitten. Unter den Backslidern betraf dies im BTI 2022 vor allem drei Fälle: von hohem Niveau aus den Trump-nahen slowenischen Ministerpräsidenten, von mittlerem Niveau aus die obstruktive polnische Haltung gegenüber den Rechtsstaatlichkeitsprinzipien der EU und von bereits niedrigem Niveau aus den erratischen, internationale Abmachungen torpedierenden brasilianischen Präsidenten.

Von allen 137 Ländern hat sich die internationale Zusammenarbeit Brasiliens unter Präsident Bolsonaro am stärksten verschlechtert, noch vor Äthiopien, Belarus und dem Libanon. Die vier Länder verbindet ein enormer Verlust an Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene. So stellte Brasilien alle konstruktiven Schritte zur Vertiefung regionaler Kooperation ein, brüskierte zahlreiche Regierungen anderer lateinamerikanischer Länder und riskierte damit das hohe Vertrauen, das Brasilien als großer Nachbar in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hat. Die massiv ausgeweitete Brandrodung im Amazonas und insgesamt der mangelnde Umweltschutz, der ausbleibende Schutz indigener Völker sowie der verantwortungslose Umgang mit der Pandemie und internationaler gesundheitspolitischer Kooperation brachte Brasilien mit zahlreichen Umwelt-, Menschenrechts- und Gesundheitsorganisationen in Konflikt. Ähnlich stark verlor der zuvor hochgelobte Premierminister Abiy in Äthiopien an Glaubwürdigkeit. Internationale Partner waren schockiert von der Gewalteskalation in der Auseinandersetzung mit den Tigray, während die Regierung internationale Vermittlung und Beobachtung ablehnte und die Auseinandersetzung als innere Angelegenheit bezeichnete. So argumentierte auch der weißrussische Diktator Lukaschenko bei seiner gewaltsamen Niederschlagung der Proteste gegen Wahlfälschungen, ignorierte Warnungen potenzieller westlicher Partner und befindet sich nun noch stärker in außenpolitischer Isolation und Abhängigkeit von Russland als jemals zuvor. Nach Ende des Untersuchungszeitraums instrumentalisierte er Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und Syrien, um Druck gegenüber Lettland, Litauen und Polen sowie der EU insgesamt in Reaktion auf Sanktionen aufzubauen. Die proporzgerichteten und klientelistischen Eliten des Libanon betreiben seit Jahren Selbstblockade und sind von mehreren ausländischen Patronen aus Saudi-Arabien, dem Iran und anderen regionalen Akteuren abhängig. Ihre internationale Glaubwürdigkeit wurde nicht nur durch die ruinöse Bankenkrise sowie die gewaltige Explosion im Beiruter Hafen erschüttert, sondern auch durch die Weigerung gegenüber internationalen Geldgebern, sich auf ernsthafte Strukturreformen einzulassen.

Diese vier Länder stellen zwar Extremfälle an machtpolitischem Zynismus und diplomatischer Inkompetenz dar, aber sie stehen gleichwohl auch stellvertretend für einen Abwärtstrend des Multilateralismus, den der BTI hinsichtlich der regionalen Kooperation, der Wirkmächtigkeit internationaler Abkommen sowie der Glaubwürdigkeit ihrer Unterzeichner erfasst. An diesem Abwärtstrend ist besonders problematisch, dass in den letzten zehn Jahren deutlich im BTI abgewertete regionale Vormächte wie die Türkei und Iran und einflussreiche Regime wie China und Russland ein auf Vertrauen und Zusammenarbeit bauendes internationales Regelwerk sowie ein konsensorientiertes diplomatisches Vorgehen missachten und zunehmend die Auffassung vertreten, auf eigene Faust mehr Vorteile erreichen zu können. So ahmt die belarussische Grenzprovokation die russischen Territorialverletzungen nach, erinnert die äthiopische Verwahrung gegen externe Einmischung an die Haltung Chinas hinsichtlich der Unterdrückung in Tibet und Xinjiang, irrlichtert die brasilianische ähnlich wie die türkische Außenpolitik zwischen Konfrontation und Selbstüberschätzung und ist Iran wie auch sein libanesischer Zögling Hisbollah ebenso Treiber wie Getriebener einer instabilen regionalpolitischen Gemengelage. Angesichts der Vielzahl regionaler und globaler Aufgaben hinsichtlich Klimaschutz, Migrationspolitik und Pandemievorsorge verheißt die Abwendung von internationaler Zusammenarbeit zusätzlich erschwerte Rahmenbedingungen für eine friedliche und kooperative Transformation.