Im Schatten eines Krieges

Russlands Angriff auf die Ukraine prägt die Länder Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens. Der Aggressor hat die Wende zu einer harten Autokratie vollzogen, das Opfer mobilisiert auch dank westlicher Unterstützung enorme Widerstandskräfte. Dazwischen gibt es indirekt Betroffene, aber auch ökonomische Profiteure. Über die langfristigen Aussichten wird jedoch erst der Ausgang des Krieges entscheiden. 

Dass von der moderaten Aufwärtsbewegung, mit der sich die Region Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien im BTI 2018 und 2020 von den globalen Entwicklungen abkoppeln konnte, nichts mehr übrig ist, lässt sich vor allem auf eine Ursache zurückführen: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Russland, das beim Demokratie-Status (-0,97 Punkte), beim Status der wirtschaftlichen Transformation (-1,21) und beim Governance-Index (-0,93) mit die größten negativen Entwicklungen aller BTI-Länder verzeichnet, ist auch regionalweit der stärkste Treiber für die gefallenen Durchschnittswerte in allem drei BTI-Dimensionen. Es zählt nun zu den „harten“ Autokratien, zudem mit einer „gescheiterten" Governance und liegt damit nur noch knapp vor den etablierten Schlusslichtern Tadschikistan und Turkmenistan. Im Gleichschritt damit hat sich auch bei Belarus der Negativtrend verfestigt. 

Im Unterschied dazu weist das Opfer der konzertierten Aggression eine erstaunliche Resilienz auf. Zwar sind die wirtschaftlichen Einbußen in der Ukraine mit einem Indexwert von -0,75 beträchtlich, der Demokratie-Status (+0,25) und mehr noch der Governance-Index (+0,73) weisen dagegen positive Werte auf ¬– trotz des im Februar 2022 verhängten Kriegsrechts und im Zeichen einer singulären gesellschaftlichen Mobilisierung. Bemerkenswert ist, dass daneben mit Armenien und Moldau zwei weitere Demokratien ihre Position konsolidieren oder sogar verbessern konnten, die unter massivem äußeren Druck stehen. Georgien und Kirgisistan setzen ihren Abwärtstrend dagegen fort und gelten nunmehr als „stark defekte“ Demokratie beziehungsweise. „gemäßigte Autokratie“ – auch wenn sie ökonomisch zu jenen Kriegsgewinnern gehören, die von unverhofften Marktchancen, russischen Avancen und Migrationseffekten profitieren.

Politische Transformation

Beitrittsträume und Nachfolgefragen

Die Demokratien der Region sind im BTI 2024 die einzigen Länder, die Fortschritte verzeichnen. Vergleichsweise gering sind dabei die Verbesserungen in Armenien (+ 0,15 Punkte). Zu sehr wird seine Innenpolitik von der Bedrohung durch den Nachbarn Aserbaidschan bestimmt. Daher kann Ministerpräsident Nikol Paschinjan, dem 2021 entgegen allen Erwartungen ein klarer Wahlsieg gelang, seinen Reformkurs kaum umsetzen. 

Auch in Moldau (+ 0,55) fanden 2021 vorgezogene Parlamentswahlen mit überraschendem Ausgang statt: nämlich mit einem in der Geschichte des Landes singulären Wahlsieg des liberalen, pro-europäischen Parteienbündnisses „Aktion und Solidarität (PAS)“. Dies eröffnete Moldau die Chance, gemeinsam mit der Ukraine am 23. Juni 2022 von der EU als Beitrittskandidat eingestuft zu werden, was wiederum eine von der Partei des geflohenen, pro-russischen Ex-Oligarchen Ilan Şor gesteuerte Protestwelle auslöste – bis die Şor-Partei am 19. Juni 2023 vom Verfassungsgericht verboten wurde. 
Pro-russische Sympathien finden sich in der Ukraine nicht mehr. Neben der umfassenden externen Unterstützung ist es die Kombination aus existenzieller Bedrohung und gesellschaftlicher Mobilisierung, die dafür verantwortlich sind, dass die Macht der Oligarchie schwindet und es sowohl bei der Justizreform als auch bei der Korruptionsbekämpfung Fortschritte gibt (+ 0,25). Georgien, das im März 2022 ebenfalls einen Beitrittsantrag an die EU gerichtet hatte, erhielt stattdessen eine Liste mit zwölf „Empfehlungen“. Der Ruf nach einer „Entoligarchisierung“ zielt dabei auf die (gar nicht so) graue Eminenz der Regierungspartei „Georgischer Traum“, Bidsina Iwanischwili, von der „Entpolarisierung“ der Innenpolitik darf sich unter anderem Michail Saakaschwilis Lager angesprochen fühlen. 

Währenddessen kämpfen nahezu alle Autokratien der Region mit dem strukturell bedingten Dilemma der Nachfolgeregelung. Den Auftakt im Berichtszeitraum machte Kasachstan. Hier nutzte Präsident Kassym-Schomart Tokajew die Chance, angesichts undurchsichtiger, gewalttätiger Proteste seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew seiner Machtpositionen zu berauben, mit denen dieser aus dem Hintergrund unverändert die Fäden zog. In vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im November 2022 und Parlamentswahlen im März 2023 sicherte sich Tokajew komfortable Stimmergebnisse sowie das Mandat, die Nasarbajew-Netzwerke durch die eigenen zu ersetzen.

In Usbekistan war mit der Installierung von Schawkat Mirsijojew, dem langjährigen Ministerpräsidenten Karimows, ein ähnliches Modell verfolgt worden – allerdings erst nach dessen Tod (was dem Familienclan schon zu Beginn das „Dach“ entzog). Mirsijojew entschied sich für das Putin-Modell einer maximalen Amtszeitverlängerung und hat seine Zukunft inzwischen bis 2037 abgesichert. Den vermeintlich sichersten Weg schlug Gurbanguly Berdimuchamedow in Turkmenistan ein, als er im März 2022 seinen Sohn Serdar zum Nachfolger bestimmte. Nachdem Serdar eigene Vorstellungen zur Amtsführung bekundet hatte, veranlasste Gurbanguly eine weitere Parlamentsreform und sitzt nun einem mit nahezu unbegrenzten (Überwachungs-)Kompetenzen ausgestatteten Ein-Kammer-Parlament vor. 

Auch in Russland, wo 2024 die aktuelle Amtszeit Wladimir Putins endet, hängt die Stabilität des Regimes maßgeblich von der Person ab, die sie erschaffen hat. Während der Sieg Putins bereits feststeht, dienen die Scheinwahlen auch als inszeniertes Referendum für den Krieg.

Wirtschaftliche Transformation

Zwischen Überlebensmodus und Kriegsprofit

Auch ökonomisch hat der Krieg als Schock gewirkt, am stärksten natürlich in der Ukraine. So ging ihre Wirtschaftsleistung 2022 um mehr als 30 Prozent zurück und stieg die Arbeitslosigkeit (inoffiziell) auf 36 Prozent. Die Armutsquote liegt bei mehr als 24 Prozent, bei Anfang 2023 mehr als 5,3 Millionen Binnenflüchtlingen. Hinzu kommen 8,25 Millionen Ukrainer:innen, die Anfang 2023 in Europa als Flüchtlinge registriert waren. Nach Schätzungen der Weltbank beläuft sich der Finanzbedarf für die Beseitigung der Schäden nach einem Jahr Krieg Anfang 2023 auf 411 Milliarden US-Dollar. Gemessen an dieser verheerenden Lage hat die Ukraine eine erstaunliche Widerstandskraft bewiesen – auch dank der bi- und multilateralen Unterstützung, die inflationsbereinigt nur mit der Marshallplan-Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist.

Russland ist dagegen mit präzedenzlosen Strafmaßnahmen konfrontiert. Zwar haben die Sanktionen kurz- wie mittelfristig ihr Ziel verfehlt, doch die Wirtschaftsprobleme sind gravierend. Offizielle Zahlen werden seit dem Frühjahr 2022 nur noch sporadisch veröffentlicht, aber die Einbrüche in der Kfz-Branche, der Luftfahrt oder im Tourismus sind nicht zu kaschieren. Der wichtigste Stabilisierungsfaktor war der Energiesektor, auf den 2022 zwei Drittel aller Exporte entfielen. Während die Wirtschaftsmanager in der Regierung die Schäden einzudämmen versuchen, sehen vor allem die sogenannten Silowiki in Putins engerem Zirkel die Abkoppelung vom Westen als Chance. Dass dies zu wachsender Abhängigkeit von China führt, nehmen sie billigend in Kauf. Russlands Wirtschaft ist zunehmend geostrategisch konditioniert.

Daneben gibt es jedoch auch eine ganze Reihe direkter und indirekter Kriegsgewinnler. So profitierten Turkmenistan und Aserbaidschan von gestiegenen Rohstoffpreisen. Das gilt im Prinzip auch für Kasachstan, das im Zuge des Krieges seinen Marktanteil in der EU auszuweiten suchte. Allerdings ist das Land für seine Ölexporte auf den russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk angewiesen, den Moskau wiederholt blockierte.
 
Georgien profitiert im Unterschied dazu ähnlich wie Armenien ganz direkt vom Krieg und befindet sich in einem Balanceakt, der seine Abhängigkeit von Russland sukzessive ansteigen lässt. So hat das Land zehntausende russischer Kriegsemigrierte aufgenommen, sich auf der anderen Seite jedoch den Sanktionen verweigert und als Transitland für „Parallelimporte“ etabliert. Zugleich hat man gezielt die Lücken genutzt, die der Exodus westlicher Firmen auf dem russischen Markt hinterlassen hat. Fasst man die Kapitalzuflüsse durch die Emigration aus Russland, die Überweisungen der georgischen Arbeitsmigrierten in Russland, die Einnahmen aus dem russischen Tourismus und die Exporte zusammen, so waren 2022 nahezu 15 Prozent des georgischen BIP russischen Ursprungs (nach 6 Prozent im Vorjahr). 

Das Gegenbeispiel ist Moldau, das zahlreiche ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen hat und keine „Parallelexporte“ verzeichnete, auch wenn Moldau sich erst im Frühjahr 2023 offiziell dem EU-Sanktionsregime anschloss. Die prekäre Lage suchten Russland und seine Handlanger in der moldauischen Opposition im Herbst 2022 gegen die Regierung zu wenden, und ohne externe Unterstützung wäre es für diese deutlich schwerer gewesen, sich zu behaupten. So aber verzeichnet das Land in fünf Indikatoren Verbesserungen und den regional stärksten Anstieg (+ 0,36).

Governance

Ein zweites Duell mit bedenklicher Schlagseite

Die Governance-Qualität spiegelt die politische Transformationsbilanz der Region. Auch hier weisen die Autokratien ganz überwiegend negative Werte auf. Dies gilt zuallererst für Russland. Effizient ist seine Governance vor allem in der Repression und im Management der Sanktionen. Ausgeprägt ist der Abwärtstrend auch in Belarus (-0,55), wo Aljaksandr Lukaschenka de facto Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt. Ein weiterer Verlierer ist Kirgisistan (-0,36 Punkte), das jetzt zu den Ländern mit „schwacher“ Regierungsführung gehört. Hier schlägt sich der autoritär-populistische Regierungsstil unter Präsident Sadyr Dschaparow nieder, der von opportunistischen Wendungen und Dezisionismus geprägt ist. 

In Moldau und der Ukraine hat die Mitte 2022 verliehene Beitrittsperspektive zur EU der Transformation Ziel, Richtung und Kohärenz verliehen. Die Beitrittsperspektive der Ukraine verdankt sich vor allem der Solidarität mit dem Kriegsopfer und der Tatsache, dass Europa künftig wieder geteilt sein wird, Grauzonen folglich zu vermeiden sind. Die wichtigsten ökonomischen Erfolge sind bislang bei den für den Handel mit der EU unverzichtbaren marktwirtschaftlichen Anpassungen zu verzeichnen. 

In Moldau ziehen seit Herbst 2021 erstmals Präsidentin, Regierung und Parlament an einem, reformorientierten Strang. Das erlaubt anders als in der Vergangenheit eine enge operative Koordination mit den externen Partnern. Allerdings befindet sich das Land seit 2022 in einem permanenten Krisenmodus, was die Umsetzung der Reformziele ebenso erschwert wie die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil des politischen Personals nur über begrenzte Regierungserfahrung verfügt. Hinzu kommt immer wieder aufflammender innenpolitischer Widerstand, der aus Moskau befeuert wird.

Zur schlechten Bilanz der Region in Sachen internationaler Zusammenarbeit und Glaubwürdigkeit trägt auch Aserbaidschan und sein Konflikt mit Armenien erheblich bei. Zwar sieht das Waffenstillstandsabkommen vor, dass eine russische Friedenstruppe mit 1.900 Soldaten die Sicherheit Bergkarabachs und den ungehinderten Zugang zur Region garantiert. Das hat Baku jedoch nicht daran gehindert, mit immer neuen provokativen Verletzungen des Abkommens die Garantiemacht zu testen – kein Wunder, denn von dieser ist seit dem Angriff auf die Ukraine nicht mehr viel übrig. Das Ziel, das Gebiet ethnisch zu säubern, ist offensichtlich. Armenien steht mit dem Rücken zur Wand, und Unterstützung ist auch seitens des Westens nicht zu erkennen. Zwar patrouilliert seit Herbst 2022 an der Grenze zu Aserbaidschan eine Beobachtungsmission der EU, die jedoch noch weniger bewegt als die Russen – und zudem dadurch kompromittiert wird, dass Brüssel zur gleichen Zeit Baku und seine Energieressourcen hofiert. Das Duell Autokratie versus Demokratie neigt sich bedenklich zugunsten Aserbaidschans.

Ausblick

Das Ende der Grauzone?

Der Krieg, den Russland in der Ukraine entfesselt hat, beeinflusst bereits jetzt Politik und Wirtschaft jener Weltregion, die sich von Osteuropa über den Kaukasus bis Zentralasien erstreckt. Sein Ausgang wird deren Gesicht voraussichtlich für lange Zeit festschreiben. Während Länder wie Armenien, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan von den Bemühungen Moskaus, die westlichen Sanktionen zu umgehen, und der daraus resultierenden kriegs- und mobilisierungsbedingten Auswanderung zahlreicher Bürger wirtschaftlich profitiert haben, steht dies in krassem Gegensatz zu den schweren Rückschlägen, die die Ukraine und indirekt auch Moldau erlitten haben. Die Tatsache, dass sich ihre Chancen auf einen EU-Beitritt im langen Schatten des Krieges deutlich verbessert haben, ist ein politischer Gewinn mit längerfristigen Auswirkungen. Für Armenien ist die Bilanz ungünstig, da seine wirtschaftlichen Gewinne aus dem Krieg durch den schwindenden Einfluss Russlands und die Tatsache, dass Aserbaidschan durch seine militarisierte Diplomatie seine Position gegenüber Armenien stärken konnte, überschattet werden. 

Für Russland, das sich mit seinen antiwestlichen Reflexen immer mehr in eine existentielle Grenzsituation manövriert hat, scheint die Angelegenheit bereits jetzt entschieden. Ab sofort, heißt es in der neuen Außenpolitischen Doktrin vom März 2023, verkörpere Russland eine eigenständige eurasische und euro-pazifische „Staatszivilisation“. Dahinter verbirgt sich die Reaktivierung der einst mit dem Marxismus-Leninismus begrabenen zivilisatorischen Mission. 

Damit birgt der Krieg das Risiko, eine Zweiteilung der Region festzuschreiben. Was als Integrationskonkurrenz im Zuge der Assoziierungsabkommen mit der EU und der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion begann, verdichtet sich in seiner Folge zu einer harten, Loyalität einfordernden, Konfrontation. Die daraus resultierenden militärischen Zusicherungen durch gegenseitige Abschreckung seitens der NATO auf der einen und Russlands auf der anderen Seite werden die politischen Optionen der Staaten in der Region prägen und damit deren außen- und innenpolitische Möglichkeiten einschränken.

Ob sich die Nachbarländer den russischen Avancen entziehen können – oder wollen –, steht dahin. Das gilt umso mehr, als mit China eine noch potentere Autokratie in die Region vordringt, deren Transformationsvorstellungen den russischen nicht zuwiderlaufen. Umso mehr benötigen jene Länder, die sich nicht unterwerfen wollen, eine Rückendeckung, die die EU und die NATO einstweilen nur dosiert gewähren. Setzt sich Russland durch und vollendet sich die Lagerbildung, wird die Grauzone verschwinden, in der sich Armenien, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau und die Ukraine bisher bewegten.