Grenzfälle und Glanzlichter

Die Autokratisierungswelle in Asien und Ozeanien rollt weiter. Betroffen davon ist auch die weltgrößte Demokratie Indien, deren Zukunft gefährdet ist. China entfernt sich ebenfalls immer mehr von den erfolgreichen Grundsätzen vergangener Jahrzehnte und zeigt ungewohnte Schwächen in der Governance. Taiwan hingegen bleibt erfolgreich und auch die sanfte Autokratie Singapur vermag zu beeindrucken.  

Drei zentrale Befunde liefert der BTI 2024 für die Region Asien und Ozeanien. Erstens hat die Covid-19-Pandemie die Dynamik der seit etwa einem Jahrzehnt rollenden Autokratisierungswelle beschleunigt. Das Abflauen der Pandemie sowie die Aufhebung rigider Bekämpfungsmaßnahmen haben nicht dazu geführt, dass sich demokratische und rechtsstaatliche Institutionen, Prozesse und Praktiken erholten. Die erste Variante dieser Autokratisierung betrifft demokratische Grenzfälle, zu denen auch Indien zählt, das im BTI 2006 noch auf Platz 21 im Ranking der politischen Transformation lag, inzwischen aber auf Platz 50 abgestürzt ist.

Die zweite betrifft „sich verhärtende“ Autokratien. Ihre latente Krisenanfälligkeit unterscheidet beide Varianten von den (weitgehend) konsolidierten Demokratien und Autokratien der Region. Zweitens konnten die in der Pandemie verzeichneten wirtschaftlichen Rückschläge oft (noch) nicht aufgeholt werden. Im Gegenteil: Für die Region insgesamt ist die Tendenz im Untersuchungszeitraum des BTI 2024 weiter rückläufig (-0,13 Punkte im Wirtschaftsstatus). Drittens haben auch die Governance-Leistungen mehrheitlich abgenommen, wobei Myanmar seit dem Putsch vom Februar 2021 (-1,91) und Afghanistan nach der Machübernahme der Taliban im August desselben Jahres (-0,90) zusammen mit Bangladesch (-0,91) die größten Einbrüche aufweisen. Aber auch die Entscheidungsträger in der Volksrepublik China, deren Pandemie-Governance der BTI 2022 noch lobte, zeigten neue oder bis dato nicht sichtbare Schwächen im Bereich der Steuerungsfähigkeit, welche auf die negative Wirkung von Re-Zentralisierung, Re-Personalisierung und Re-Ideologisierung von Herrschaft hindeuten (-0,30).

Politische Transformation

Kartenhäuser und latent Bedrohte

Im Vergleich zum BTI 2022 ist im Untersuchungszeitraum die Zahl der Demokratien von elf auf zehn gesunken, da Papua-Neuguinea (-0,98 Punkte) nicht mehr als Demokratie geführt wird. Ausschlaggebend hierfür sind letztlich administrative Unzulänglichkeiten bei den Parlamentswahlen von 2022. Wenngleich politische Gewalt, Stimmenkauf und die unzureichende Organisationsfähigkeit der Wahlbehörden eine immanente Begleiterscheinung jeder Wahl seit der Unabhängigkeit des Landes 1975 waren, erreichten diese Schwächen nun ein ungekanntes Ausmaß. Im Unterschied dazu erzielte Nepal (+0,40) weitere Fortschritte bei der Vertiefung und Absicherung der demokratischen Reformen, welche nach der Staats- und Verfassungskrise in den 2010er-Jahren eingeleitet worden waren.

Bedeutend für den gesamtregionalen Trend ist insbesondere der Umstand, dass 14 der 22 Länder eine – zum Teil sehr deutliche – Verschlechterung im Demokratie-Status erfahren haben, aber nur fünf Staaten die demokratische Qualität ihrer politischen Institutionen und Prozesse verbessern konnten. Infolge dieser Entwicklung ist in Asien und Ozeanien eine immer größere Zahl an „demokratischen Grenzfällen“ entstanden. Sie durchlaufen seit Jahren eine negative Entwicklung, welche sie zunehmend näher an die Gruppe der schon eindeutig autoritären politischen Systeme heranführt, da selbst die minimalen Bedingungen für Demokratie massiv angegriffen werden. Hierdurch ähnelt das demokratische Regierungssystem immer stärker einem fragilen Kartenhaus, das jederzeit in sich zusammenfallen könnte. Mit Indien, Indonesien, Malaysia und den Philippinen zählt der BTI 2024 insgesamt vier solcher Grenzfälle, während die drei demokratischen Grenzfälle im BTI 2014 – Bangladesch, Papua-Neuguinea und Thailand – inzwischen autoritär regiert werden.

Bangladesch und Thailand gehören nunmehr einer zweiten Kategorie von politischen Systemen mit einer negativen Dynamik an: der Gruppe der „sich verhärtenden Autokratien“. Hierbei handelt es sich um zuvor weniger repressive oder sogar minimal demokratische Systeme, die in den letzten etwa zehn Jahre zunehmend repressiver wurden und inzwischen eindeutig autoritären Charakter angenommen haben. Diese Gruppe umfasst zudem Afghanistan, Kambodscha und Myanmar. Im Unterschied zu konsolidierten Autokratien, in denen alle politisch signifikanten Gruppen die zentralen politischen Institutionen der Autokratie anerkennen und ihre Spielregeln befolgen (sei es aus Überzeugung, Furcht oder Eigennutz), können die „sich verhärtenden Autokratien“ nicht auf generelle Akzeptanz oder wenigstens allgemeine Apathie der eigenen Untertanen und semiloyaler Eliten bauen. Zugleich sind sie jedoch noch nicht so repressiv, dass sämtliche Restbestände bürgerlicher Rechte und politischer Freiheiten als verblasste Erinnerung oder ferne Illusion erscheinen. Hieraus resultiert eine anhaltende, mindestens latente Bedrohung des Regimes, welche seine Verhärtung maßgeblich antreibt. Dass sich in dieser Gruppe in fast allen Fällen seit dem BTI 2014 als einziges Kriterium des Demokratieindex das staatliche Gewaltmonopol verbessert hat, ist nicht zwangsläufig eine gute Nachricht. Dies nämlich zeigt: Im Zuge der autoritären Verhärtung werden diese Staaten durchsetzungsstärker und zugleich repressiver.

Wirtschaftliche Transformation

Long Covid, wirtschaftlich gesehen

Die Corona-Pandemie hat auch ökonomisch deutliche Spuren hinterlassen. Die positive Entwicklung im Jahrzehnt zuvor, die konträr zum langsamen globalen Abwärtstrend lag, ist dahin: Während der regionale Durchschnitt der wirtschaftlichen Transformation im BTI 2020 noch einen Wert von 5,72 aufwies, liegt er nun bei nur 5,34. Zuletzt am stärksten betroffen waren die Geldwert- und Fiskalstabilität (-0,39), aber auch die Nachhaltigkeit in Bezug auf Umwelt- und Bildungspolitik hat deutliche Verluste erlitten (-0,14).

Wie der Vergleich der volkswirtschaftlichen Leistungsstärke nach der Corona-Krise mit der Performanz im BTI 2020 zeigt, sind zudem die Unterschiede innerhalb der Region größer geworden. Ein Zuwachs der Performanz ist nur in Singapur und in Taiwan zu verzeichnen, also in Ländern, die sich schon lange auf einem hohen wirtschaftlichen Transformationsniveau befinden. Knapp drei Viertel der Länder weist demgegenüber einen Rückgang auf. Das Schlusslicht ist hier Myanmar, wo die Kombination aus Pandemie, Militärputsch, einem langanhaltenden zivilen Widerstand und dem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs innerhalb von zwei Jahren den Entwicklungsfortschritt eines ganzen Jahrzehnts zunichte gemacht haben. Aber auch Sri Lanka und Laos weisen einen überaus starken Leistungsverlust auf. Insgesamt hat kein Land auf einem niedrigen Transformationsniveau nach der Pandemie einen Zuwachs erzielt. Immerhin: Im Fall Papua-Neuguineas erwies sich die Abhängigkeit von der weltweiten Nachfrage nach Rohstoffen, die dem Land in der Corona-Krise zum Nachteil gereichte, angesichts der wieder anziehenden Nachfrage und der steigenden Rohstoffpreise nunmehr als vorteilhaft. Das anziehende Wachstum erreicht jedoch kaum die breitere Bevölkerung, was sich beispielsweise daran zeigt, dass fast ein Viertel der Einwohner Papua-Neuguineas als unterernährt gilt.

Aufschlussreich ist auch ein Vergleich zwischen den beiden „Kraftzentren“ der Region: China und Indien. Bezüglich der volkswirtschaftlichen Leistungsstärke liegt Indien zwar immer noch zwei Punkte unter dem Wert von 2020, gehörte zuletzt aber zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit. Dies kontrastiert mit der Entwicklung Chinas: Zwar liegt der Performanzwert nur um einen Punkt niedriger als im BTI 2020, ein Wachstum von zuletzt nur 3,0% ist allerdings keinesfalls ausreichend angesichts drängender Herausforderungen wie Jugendarbeitslosigkeit, demographischem Wandel und steigender Ungleichheit. Dies ist vor allem bedingt durch die desaströsen Folgen einer Reihe wiederholter „Lockdowns“, die im November 2022 zu einer Kaskade landesweiter Proteste führte. Sie können auch mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit in Zusammenhang gebracht werden, die im Juni 2022 mit 19,9% ein Rekordniveau erreichte.

Governance

Starke Männer, schwache Governance

Während der regionale Durchschnitt des Governance-Index gegenüber dem BTI 2022 nochmals um 0,19 auf nun nur noch 4,65 Punkte sinkt, bleibt die Steuerung der Transformation in Taiwan sehr gut. Im Gesamtranking belegt die Insel sogar den ersten Platz – und dies, obwohl die verschärften Spannungen zwischen Beijing und Taipei mit einer Zunahme der Polarisierung zwischen den politischen Lagern einhergehen, in deren Mittelpunkt die eng miteinander verknüpften Fragen der nationalen Identität und der Beziehungen zwischen Taiwan und Festlandchina stehen. Als weiteres gutes und außergewöhnliches Beispiel präsentiert sich Singapur. Obwohl die seit 1959 regierende People’s Action Party keine Bereitschaft erkennen lässt, mehr demokratische Spielräume zu ermöglichen, liegt der Stadtstaat in puncto Gestaltungsfähigkeit und effizientem Ressourceneinsatz sogar an der Spitze des BTI-Rankings.

Am anderen Ende des Spektrums sticht Bangladesch negativ heraus (-0,91). Die seit 2009 amtierende Regierung der Awami League von Premierministerin Sheich Hasina Wajed legitimiert ihren Kurs mit dem Verweis auf Wirtschaftswachstum, Einkommenssteigerungen, Infrastrukturentwicklung und Terrorismusbekämpfung. In all diesen Bereichen gerät sie zunehmend in eine Leistungs- und Verteilungskrise. Die Wiederherstellung demokratischer Praktiken hat hingegen keine Priorität, ebenso wie es keine Bereitschaft für einen aufrichtigen Dialog mit der Opposition und den zivilgesellschaftlichen Organisationen zu geben scheint. Einen regelrechten Kollaps der Gestaltungsleistung erlebte Myanmar nach dem Militärputsch im Jahr 2021. Lediglich Nordkorea wird von den Länderexpert:innen der Region noch kritischer bewertet.

Indonesien hat im BTI 2024 einiges der unter dem seit 2014 amtierenden Präsidenten Joko Widodo („Jokowi“) verlorengegangenen Governance-Qualität zuletzt wiedergewonnen. Ebenso wie Vietnam und Indien liegt das Land nun vor China. Dass solche Verschiebungen aber nicht immer auf tatsächlich verbesserte Regierungsleistungen hinweisen müssen, zeigt der Vergleich von Indien und China. In beiden Ländern lässt die Qualität der Governance unter den starken Männern Xi Jinping (Präsident seit 2012) und Narendra Modi (Premierminister seit 2014) nach. Nur war diese negative Entwicklung im Beobachtungszeitraum des BTI 2024 in China noch stärker ausgeprägt als in Indien. Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Modi die lange Zeit über solide Verankerung der demokratischen Institutionen auf nationaler Ebene gefährdet. Indem seine Bharatiya Janata Party die säkulare Demokratie in eine Hindu-Ethnokratie umwandelt, riskiert sie, damit den größten komparativen Vorteil zu verspielen, den Indien gegenüber China hat.

In regionalen Durchschnitt sind die internationale Zusammenarbeit der Staaten (-0,24), ihre Fähigkeit zur Konsensbildung (-0,22) sowie die Gestaltungsfähigkeit von politischen Entscheidern (-0,20) am stärksten negativ betroffen. Die nachlassende Bereitschaft zur Kooperation reflektiert die vielerorts mit Besorgnis registrierte Neigung Beijings, in geopolitischen Angelegenheiten zunehmend auf Konfrontationskurs zu gehen, die weitreichende Isolation der myanmarischen Militärjunta sowie die Auswirkungen der innerstaatlichen Krise auf die Beziehungen innerhalb der ASEAN. Auch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und die wenig vertrauenswürdig und verlässlich agierende Regierung von Bangladesch wirken sich negativ aus. Apropos Afghanistan: Der fast moderate Rückgang um 0,90 Punkte sollte nicht zum Umkehrschluss verleiten, wonach die Taliban vielleicht doch „nicht so schlimm“ regieren würden. Denn schon die von ihnen gestürzte Vorgängerregierung hatte eine klägliche Governance betrieben – anders etwa als die bemühte, wenngleich oft wenig erfolgreich agierende Regierung der myanmarischen Staatsrätin Aung San Suu Kyi bis zum Putsch vom 1. Februar 2021.

Ausblick

Zwischen Scheitern und Stärke

Wie in den Jahren zuvor bietet der BTI für Asien und Ozeanien wenig Grund für Optimismus. Die Schwächung demokratischer Freiheiten, Rechte, Prozesse oder Institutionen durch Akteure im Machtzentrum des politischen Systems („endogene“ Autokratisierung) ist weiterhin die vorherrschende Form der „autoritären Transformation“. Darin ähnelt diese Region den meisten anderen weltweit. Gleichwohl sticht hervor, dass mit dem Militärputsch in Myanmar und dem Sieg der Taliban im afghanischen Bürgerkrieg älteren Formen der „exogenen“ Autokratisierung, wie sie im Kalten Krieg dominant waren, substanzielle Bedeutung zukommt.

Gefährdet erscheint die Zukunft der indischen Demokratie. Doch wenngleich der Trend unzweifelhaft in Richtung „Ethnokratie“ geht, sollte die Resilienz des föderalen Systems nicht unterschätzt werden. Die Autokratisierung trifft nicht alle Regionen und Einzelstaaten gleichermaßen, betrifft verschiedene Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise und zieht gezielt einige Facetten der rechtsstaatlichen Demokratie in ganz besonderer Weise in Mitleidenschaft, lässt andere hingegen (weitgehend) unberührt. Darauf verweist etwa der Umstand, dass die Integrität der (nationalen) Wahlen weiterhin robust ist. Keineswegs klar ist auch die Entwicklung in Sri Lanka und Thailand.

Und dann ist da der Fall China. Sollte sich die Kommunistische Partei an die Agenda von Präsident Xi Jinping klammern, der in jüngster Vergangenheit viele Maßnahmen, die die Wirtschaftsentwicklung der knapp vier Jahrzehnte seit der Modernisierung erst ermöglicht haben, wieder rückgängig gemacht hat, wird es schwer werden, die verlorene Dynamik zurückzugewinnen. Hinzu kommt die Konkurrenz zu den USA. Sie fordert auch die übrigen Staaten der Region zunehmend heraus, gleich in welchem Verhältnis sie zur Volksrepublik stehen.