Weiter ohne Kompass

Seit Jahren haben die Transformationspfade in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik keine klare Richtung mehr. Vielerorts fehlt ein grundsätzlicher Konsens, so dass institutionelle Schwächen der Volkswirtschaften unbearbeitet bleiben und ein polarisierender Politikstil dominiert. Immerhin gibt es nach wie vor Vorbilder – und im BTI 2024 auch demokratische Comebacks.

Wohin soll die Reise in Lateinamerika und der Karibik gehen? Die Antwort darauf scheint nach zwei weiteren Jahren widersprüchlicher Entwicklungen und mangelnder Visionen ungewisser denn je. Noch während man fast überall mit den Rückschlägen durch die Corona-Pandemie, die die Region weltweit am stärksten getroffen hatte, fertig werden musste, kam der nächste Schock durch Russlands Invasion der Ukraine. Über die importierte Inflation und entsprechend korrektive Geldpolitik ließ er die Erholung erlahmen. Hinzu traten in der Mehrheit der Länder nach wie vor ungelöste interne Probleme. 

Insgesamt hat sich der Abwärtstrend in allen drei Transformationsdimensionen des BTI fortgesetzt. Mittelfristig sind eine Tendenz zu Instabilität oder Aushöhlung der Demokratie, Stagnation oder Rückschritten in der wirtschaftlichen Transformation und insbesondere seit dem BTI 2018 auch eine Erosion der Governance zu beobachten. Im Untersuchungszeitraum hing der negative Governance-Trend auch mit dem personalistischen Führungsstil populistischer Polarisierer wie Jair Bolsonaro in Brasilien, Andrés Manuel López Obrador (AMLO) in Mexiko und dem „coolen Diktator“ Nayib Bukele in El Salvador zusammen. Letzterer ist zwar hauptverantwortlich für die regionalweit stärksten Negativtrends in punkto Demokratie und Governance um jeweils knapp 1,5 Punkte auf der BTI-Zehnerskala, erfährt seitens der Bevölkerung aber hohen Zuspruch. Sein Beispiel könnte deshalb Schule machen. 

Politische Transformation

Heterogene Dynamiken

Der Fall El Salvador stellt eine der markantesten Tendenzen der jüngsten politischen Transformation dar. Präsident Bukele hat mit seinen erfolgreichen Pandemiemaßnahmen seine Partei Nuevas Ideas 2021 zu einer Zweidrittelmehrheit geführt und damit den Weg zu einer Dominanz der Exekutive geebnet. Die erste Maßnahme bestand darin, alle fünf Richter der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs und den Generalstaatsanwalt durch Loyalist:innen zu ersetzen. Kurz nach ihrem Amtsantritt entschieden die neuen Richter, dass Bukele 2024 entgegen der Verfassung zur Wiederwahl antreten kann. Zudem wurde der Ausnahmezustand zur Bekämpfung von Bandengewalt verhängt. Ende 2022 waren 60.000 Verdächtige in Haft, darunter Tausende, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen zu Unrecht inhaftiert sind. Dennoch genießt Bukele weiterhin eine sehr hohe öffentliche Zustimmung. 

In Argentinien, Brasilien und Mexiko waren die Versuche einer Schwächung der judikativen Unabhängigkeit weniger erfolgreich. Zuletzt untersagte Brasiliens Oberstes Wahlgericht Ende Juni 2023 Bolsonaro die Ausübung öffentlicher Ämter bis 2030, nachdem er des Machtmissbrauchs im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2022 und unbegründeter Behauptungen über Wahlbetrug für schuldig befunden worden war. Im selben Monat versetzte der Oberste Gerichtshof Mexikos der politischen Agenda von AMLO einen Schlag und annullierte einen Teil des umstrittenen Wahlreformpakets („Plan B“), mit dem das Nationale Wahlinstitut umstrukturiert werden sollte. Darüber hinaus erklärte der Gerichtshof im April die Überführung der Nationalgarde in die Armee für ungültig. Der Oberste Gerichtshof Argentiniens hat sich ebenfalls gegen eindeutig politische Machtspiele zur Wehr gesetzt.

Eine zweite Tendenz lässt sich idealtypisch als extreme Polarisierung zwischen Exekutive und Legislative beschreiben, deren Gefährdungspotential für die Demokratie das Beispiel Peru (-0,50 Punkte) veranschaulicht. Gleich nach seinem Wahlsieg wurde die Legitimität des Präsidenten Pedro Castillo vom rechten Lager um die unterlegene Keiko Fujimori vehement bestritten. In der Folge gab es im Kongress fast nur noch obstruktive Opposition gegen Castillos Regierung, die ihrerseits ohne klaren Regierungsplan agierte und sich zudem in Korruptionsaffären verwickelte. Angesichts eines dritten Antrags auf Amtsenthebung, der wenig Aussicht auf Erfolg hatte, versuchte Castillo am 7. Dezember 2022, durch einen Selbstputsch seine Macht auszuweiten. Der Staatsstreich scheiterte jedoch am breiten Widerstand des Kongresses, der Justiz und des Militärs, und Castillo wurde stattdessen wegen Rebellion und Verschwörung angeklagt. In der Folge kam es zu teilweise gewaltsamen Protesten und polizeilicher Repression, bei denen etwa 60 Menschen ums Leben kamen.

Auffällig war aber drittens auch die Resilienz der defekten Demokratien, wie insbesondere Honduras (+0,33) und die Dominikanische Republik (+0,40) zeigen. Der dominikanische Präsident Luis Abinader hat sich in seiner Berufungspraxis für hochrangige Ämter an beruflichen Verdiensten und nicht Parteizugehörigkeit orientiert, hat versucht, die Transparenz der Regierungshandelns zu erhöhen und die Politisierung des Justizwesens reduziert. Honduras, das unter Präsident Juan Orlando Hernández 2017 in eine Autokratie abgeglitten war, gelang es, mit freien und fairen Wahlen wieder zur Demokratie zurückzukehren, doch bleibt die Bilanz gemischt. So hat die neue Präsidentin Xiomara Castro unter anderem das „Geheimhaltungsgesetz“ abgeschafft, das es Beamt:innen ermöglichte, korrupte Handlungen zu verbergen. Allerdings verabschiedete sie auch ein Amnestiegesetz, das einflussreiche Mitglieder ihrer Partei vor Strafverfolgung bei Amtsmissbrauch schützen könnte. Ende 2022 rief sie einen teilweisen Ausnahmezustand aus, um die weit verbreitete Gewalt zu bekämpfen – eine Maßnahme, die jedoch breite öffentliche Unterstützung fand.
 

Wirtschaftliche Transformation

Negative Stagnation

Ökonomisch war der Untersuchungszeitraum, von Sonderfällen wie Haiti oder Venezuela abgesehen, von zwei sich überlappenden Phasen geprägt. Das Jahr 2021 stand im Zeichen der Erholung, die in fast allen Ländern tatsächlich auch eintrat, wenngleich nicht überall im gleichen Maß wie in Panama und Peru. Panamas BIP pro Kopf legte nach dem massiven Einbruch von 19,1% im Jahr 2020 um 13,8% zu, das von Peru nach dem Einbruch von 12,2% um 12%. Schon 2021 zeigten sich vielerorts allerdings auch Tendenzen steigender Inflation, die sich mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine fortsetzten. Insbesondere die Preise für Energie und Nahrungsmittel – potenzielle Auslöser für soziale Unzufriedenheit – belasteten nahezu alle Länder sehr stark, und kaum eines konnte die von den Zentralbanken angestrebten Inflationsziele erreichen. 

Jene Zentralbanken kamen ihrem eigentlichen Auftrag, der Geldwertstabilität, trotzdem mehrheitlich solide und professionell nach und erhöhten zunächst die Zinssätze. Die Kehrseite: Damit verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 deutlich. Daraus ergibt sich die zunächst vor allem für ärmere Schichten, aber auch für das soziale Gefüge insgesamt gefährliche Gemengelage aus geminderten Beschäftigungsperspektiven und inflationsbedingtem Reallohnverlust. Schon jetzt lässt sich mit Blick auf das vergangene Jahrzehnt von einer „negativen Stagnation“ im Hinblick auf das sozio-ökonomische Entwicklungsniveau sprechen. So entspricht Brasiliens Wert im Human Development Index (HDI) dem des Jahres 2014, jener Mexikos in etwa dem des Jahres 2012, und das wegen seiner sozialen Sicherungssysteme oft gepriesene Kuba liegt noch unterhalb des Wertes von 2011.

Deprimierend ist die Situation hinsichtlich der Armutsentwicklung. Nach Berechnungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) für das Jahr 2022 sind mehr Menschen von Armut oder extremer Armut betroffen als vor der Pandemie. Für die CEPAL stellt dies einen Rückschritt um 25 Jahre dar, während sie in der für 2022 eruierten Arbeitslosigkeit einen Rückschritt von 22 Jahren sieht, von dem insbesondere Frauen betroffen sind. Darüber hinaus konstatiert die Wirtschaftskommission als Nachwehen der Pandemie eine „stille Bildungskrise“, die eine halbe Generation von Schülern abgehängt hat. 

Der längerfristige Trend seit dem BTI 2010 – dem bisherigen Peak im regionalen Durchschnittswert – zeigt, dass die Entwicklung über das vergangene Jahrzehnt hinweg rückläufig ist, durch die Pandemieeffekte noch einmal verstärkt wurde und im jetzigen Untersuchungszeitraum nur punktuell aufgefangen werden konnte. Zu den großen Verlierern in diesem Zeitraum gehören gerade auch die regionalen „Giganten“: Brasilien (-1,29), Mexiko (-1,14) und Argentinien (-1,11). Sie gehören zur Gruppe der regionalen Mittelfeldländer, die allesamt unter institutionellen Schwächen leiden. Im Vergleich zu den erfolgreicheren Ländern Chile, Costa Rica und Uruguay – die vorgeben, was in Lateinamerika möglich sein sollte – stechen vor allem die Defizite in Marktorganisation, Privateigentum, wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sowie Umwelt und Bildung hervor. 

Governance

Unüberwindbare Hürden?

Einer entschlossenen Bearbeitung dieser Problemfelder stehen allerdings gravierende Governance-Probleme entgegen. Dem Beobachter bietet sich ein Szenario zerbröselnder oder verhinderter Konsense, zu dem oft genug strukturelle Faktoren, aber auch mächtige Veto-Gruppen innerhalb und außerhalb des politischen Systems beitragen. Demokratisch legitimierter und organisierter Wandel in Lateinamerika und der Karibik scheint heute an unüberwindbare Hürden zu stoßen, was die Bevölkerungen auch zunehmend wahrnehmen – sofern sie einen solchen Wandel überhaupt befürworten. Nicht wenige haben sich mit dem jeweiligen Status quo weitgehend arrangiert und erwarten von ihren Regierungen bestenfalls die Verbesserung ihrer materiellen Lebensgrundlagen (was nicht wenig wäre). 

Insgesamt haben sich die meisten Kriterien und Indikatoren der Governance im Untersuchungszeitraum verschlechtert – insbesondere die Indikatoren Politikkoordinierung (-0,50), Priorisierung (-0,23), Implementierung (-0,32), Antidemokratische Akteure (-0,36) und Konfliktmanagement (-0,27). Dies deutet auf eine gefährliche Mischung aus schwachen Regierungskapazitäten und mangelndem Umgang mit sozialen Spaltungen und Konflikten hin.

Maßgeblich dazu beigetragen haben in Gestalt von Argentinien (-0,81) und Brasilien unter Bolsonaro (-0,63) erneut zwei Demokratien. Brasilien verfügt zwar traditionell über eine gut aufgestellte öffentliche Verwaltung, aber die oft willkürlichen Umbesetzungen, Stellen- und Haushaltskürzungen und die Besetzung von Behörden mit ideologischen Mitläufer:innen haben der effizienten Nutzung der verfügbaren Ressourcen enorm geschadet. Auch der Kampf gegen die Korruption hat erheblich gelitten. Bolsonaro hat seinem Nachfolger Lula da Silva ein schweres Erbe hinterlassen. Von einer desorganisierten Governance war zuletzt auch Peru (-1,16) geprägt. Etwa 70 Ministerwechsel mit u.a. sieben Innen- und sechs Verteidigungsministern in 16 Monaten sprechen eine klare Sprache.

Ein neuartiges und womöglich beispielgebendes Modell autoritärer Governance hat Präsident Bukele in El Salvador etabliert. Es setzt nicht auf Links-Rechts-Konfrontation, sondern auf (scheinbar) effiziente Problemlösungen für akute Probleme und agiert hier offen autoritär. So geht die Regierung militärisch und ohne parlamentarische Kontrolle gegen kriminelle Banden vor, was die breite Zustimmung der Bevölkerung findet, die angesichts stark abflauender Alltagsgewalt offenkundig auch Menschenrechtsverletzungen in Kauf nimmt.

Positive Entwicklungen sind erneut mit der Lupe zu suchen. Neben Honduras (+0,47) ragt einzig Kolumbien (+0,50) hervor, doch hat das Land damit unter Präsident Gustavo Petro lediglich die Governance-Delle unter dem wenig konsensorientierten und relativ erfolglosen Präsidenten Iván Duque geglättet. Daneben ist hervorzuheben, dass Uruguay, Costa Rica und Chile ihr relativ hohes Niveau halten konnten – sie belegen die Plätze 2, 6 und 7 im Gesamtranking aller 137 Staaten. In Chile und Costa Rica sind allerdings neue Regierungen angetreten, und weder der linke Präsident Gabriel Boric in Chile noch der mit rechtspopulistischen Attitüden agierende Präsident Rodrigo Chaves in Costa Rica verfügen über gesicherte Mehrheiten im Parlament. In beiden Fällen sind die Widerstände gegen Reformen immens. Noch haben sich die etablierten Governance-Strukturen als gefestigt genug erwiesen, doch insbesondere in Costa Rica besteht die Gefahr des Abdriftens in ein populistisches Regime, während Chile mitten in einem politischen Umbruch mit ungewissem Ausgang steckt.

 

Ausblick

Die Region Lateinamerika und die Karibik ist von einer Krise in die nächste gestolpert, und vielerorts fehlt nach wie vor ein gesellschaftlicher Konsens über mittel- oder gar längerfristige Ziele. In Argentinien und Bolivien hat sich die Logik des politischen Nullsummenspiels derart verfestigt, dass darüberhinausgehende Projekte derzeit kaum vorstellbar sind, solange gemäßigtere Fraktionen auf beiden Seiten nicht zusammenfinden. In Brasilien steht Lula da Silva vor dem Scherbenhaufen der Bolsonaro-Ära. Inwieweit er sich und seine Regierung aus dieser „Freund-Feind“-Rolle herauslösen und glaubhaft übergreifende Lösungen anbieten können, wird für eine De-Polarisierung Brasiliens mit entscheidend sein. Ecuador steht eine weitere Periode der Instabilität bevor, die durch die schwachen Repräsentationsstrukturen weiter belastet wird. Vor diesem Hintergrund sind auch Szenarien, die den Entwicklungen Perus im Untersuchungszeitraum ähneln, nicht auszuschließen.

Vieles wird davon abhängen, ob und wie die Länder aus der „negativen Stagnation“ der Wirtschaftsentwicklung herauskommen, da dies massiv die Stimmung innerhalb der Bevölkerungen und die Akzeptanz der Demokratie insgesamt beeinflusst. Insgesamt sind die Wachstumsmodelle mit ihrer passiven Integration in den Weltmarkt, niedrigerer Produktivität und großen informellen Sektoren an ihre Grenzen gestoßen. Investitionen in und Reformen der Bildungs- und Gesundheitswesen wären ebenso wichtig wie institutionelle Reformen zur Bekämpfung von Ungleichheit und zur Eindämmung des informellen Sektors. Doch wie es aussieht, bleibt vorerst alles beim Alten.