Der trügerische Glanz der Bilder

Die PR-Maschine vieler arabischer Regime läuft auf Hochtouren. Der Blick dahinter ist umso ernüchternder: Er zeigt für den Nahen Osten und Nordafrika in punkto Demokratie und Regierungsqualität die schlechtesten im BTI je gemessenen Werte einer Region. Auch die Wirtschaftskraft und sozialen Sicherungssysteme enttäuschen. Dynamik entwickelt hat Saudi-Arabien, wo der neue starke Mann einen erstaunlichen, allerdings strikt autokratischen Transformationsprozess entfacht hat.

Aufwändige Werbevideos, millionenschwere Fußballdeals, spektakuläre Bauprojekte: Mit PR-trächtigen Aktionen versuchen viele arabische Regime, sich als positiv und fortschrittlich zu inszenieren. Die Daten des BTI 2024 zeigen die Realität hinter den glitzernden Fassaden: Im Bereich der politischen Transformation markiert der Durchschnittswert von 3,47 für die Region Naher Osten und Nordafrika den schlechtesten je im BTI gemessenen Wert aller Regionen. Gleiches gilt für den Governance-Index (3,76 Punkte). Und das wirtschaftliche Transformationsniveau (4,70 Punkte) liegt ebenfalls so niedrig wie nie seit dem BTI 2006. 

Einzelne Länder treiben diesen Negativtrend besonders: So ist der einst hoffnungsvolle Reformprozess in Tunesien zum Erliegen gekommen: Das Land ist wieder eine Autokratie und weist ein politisches Minus von 1,57 Punkten auf. Überdies leidet Tunesien unter einer fortgesetzten Wirtschaftsmisere (-0,46 Punkte). Einen ähnlich starken Abschwung verzeichnet die Türkei, die damit ihren ausgeprägten Negativtrend der vergangenen Dekade fortsetzt. Im Governance-Index fällt der Sudan unter der wiedererrichteten Militärherrschaft auf 1,30 Punkte, gleich schlecht wie Syrien auf Platz 134 im Index. 

Das verknöcherte iranische Regime stellt auf Rang 133 im Governance-Index eine Art Gegenentwurf zu seinen westlichen Nachbarn am Persischen Golf dar. Die meisten anderen Autokratien der Region nehmen für sich in Anspruch, den – wenn auch gelenkten – Fortschritt zu verkörpern. Ihre PR-Inszenierungen suggerieren, eine autoritäre Modernisierungsdiktatur könne Stabilität, Wohlstand und Fortschritt bringen. Verfolgten Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate schon über die letzten 30 Jahre eine solche Strategie, hat Saudi-Arabien unter Kronprinz Muhammad bin Salman (MbS) nun ebenfalls diesen Weg eingeschlagen und folgerichtig in allen drei BTI-Indizes beachtliche Fortschritte erzielt. Gleichwohl bleibt das Königreich eine der härtesten Autokratien der Welt. Die iranischen Machthaber hingegen scheinen sich nicht einmal mehr um ihr Image zu kümmern, weder nach innen noch nach außen.

Politische Transformation

Kompromisslos autokratisch

Das einzig verbliebene Land, das der BTI trotz politischer Rückschritte als „Demokratie“ einordnet, ist der Libanon. Tunesien hingegen ist zur Autokratie herabgestuft worden, da Staatspräsident Kais Saied gezielt demokratische Institutionen delegitimiert und die Opposition mit harter Hand verfolgen lässt. Hervor stachen im Berichtszeitraum insbesondere die Ausrufung des Ausnahmezustands im Juli 2021, einhergehend mit der temporären Auflösung des Parlaments und der Entlassung der Regierung. Trotz einer neuen Regierung agiert Saied nun weitgehend als Alleinherrscher. Eine neue Verfassung lässt seit Juli 2022 Reminiszenzen an die Zeiten unter Langzeitherrscher Zine Abidine Ben Ali wach werden, zumal das im Winter 2022/2023 neu gewählte Parlament weitgehend aus machtlosen Abgeordneten besteht, die keinerlei Möglichkeit (und allem Anschein nach kaum Anreiz) für eine kritische Kontrolle der Exekutive haben.

Der Iran wurde nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini am 16. September 2022 von erneuten Massenprotesten unter dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ erschüttert. Ein Jahr zuvor hatte Ebrahim Raisi nach einer umstrittenen Wahl das Amt des Staatspräsidenten übernommen. Seinem Ruf als ultrakonservativer Hardliner wurde Raisi gerecht. Nach Angaben von Amnesty International wurden im Jahr 2022 mindestens 582 Menschen hingerichtet. Mit großer Härte gingen die Sicherheitskräfte zudem gegen die Demonstrationen vor. Der vordergründige Erfolg: Bis Anfang 2023 waren die meisten Proteste erstickt.
Im Sudan ist der Demokratisierungsprozess nach wenigen Monaten jäh abgebrochen (-0,97). In keinem Indikator kommt der Sudan über einen Wert von 4 und gilt weiterhin, wie auch Jemen, Libyen und Syrien, als „zerfallender Staat“. Keine andere Weltregion weist mehr failing states auf.

In der Türkei hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seit der Umstrukturierung von einer parlamentarischen zu einer präsidentiellen Republik alle Macht auf sich vereint, kontrolliert Parlament, Justiz, Militär und Medien, und der politische Transformationsstand des Landes sinkt weiter (-0,57). Die mit Spannung erwarteten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2023 brachten keinen Wechsel an der Staatsspitze: dafür sorgte nicht zuletzt das reformierte Wahlgesetz, welches das von Erdoğans Regierungspartei AKP dominierte Parlament im April 2022 verabschiedet hatte. Bereits zuvor, im Juni 2021, hatte die Regierung gegen die zweitstärkste Oppositionspartei HDP ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet. Gegen die grassierende Korruption geht die Regierung hingegen nur sehr zögerlich vor, insbesondere, wenn Mitglieder aus den eigenen Reihen oder assoziierten Wirtschaftszirkeln in Verdacht stehen. 

Überraschend positiv muten die Entwicklungen im Irak (+ 0,27) und Saudi-Arabien (+ 0,23) an. Im Falle Iraks resultieren sie aus verschiedenen kleineren Verbesserungen, etwa beim erweiterten Gewaltmonopol des Staates oder der Gewaltenteilung. Saudi-Arabien hat sich seit der Machtübernahme von MbS, der den alternden König Salman vertritt und seit 2022 auch das Amt des Ministerpräsidenten innehat, zu einem erstaunlich dynamischen Land entwickelt. Als Alleinherrscher hat MbS nicht nur die einst allmächtigen wahhabitischen Kleriker an den Rand gedrängt, sondern auch Lockerungen im Bereich von Kunst und Kultur veranlasst, was insbesondere die jungen, urbanen Schichten schätzen. Solche Liberalisierungen sind aber nicht zu verwechseln mit politischen Reformen. Nach wie vor besitzt der Repressionsapparat alle Möglichkeiten, unberechenbar und ohne rechtlichen Rahmen jederzeit gegen jedermann vorzugehen.

Wirtschaftliche Transformation

Große Sorgen um die Stabilität

Irak und Saudi-Arabien sind auch im Bereich der wirtschaftlichen Transformation die einzigen Länder der Region mit nennenswerten Fortschritten. Ansonsten bestätigt sich das gewohnte Bild: Die ressourcenreichen Golfmonarchien dominieren, wobei sich die Vereinigten Arabischen Emirate auf 8,00 Punkte und damit knapp in die Kategorie der „weit fortgeschrittenen Volkswirtschaften“ verbesserten. Kuwait stieg in die Reihe der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“ auf.

Sechs Länder verschlechterten sich in nennenswertem Umfang. Sie alle leiden unter 
schwierigen Rahmenbedingungen, dazu kommt aber – und das ganz wesentlich – Regierungsversagen oder falsche Prioritätensetzungen. Der Libanon (-0,36) ist ein bezeichnendes Beispiel. Einerseits leidet das Land unter den weltweit gestiegenen Preisen für Rohstoffe und im Nahrungssektor, andererseits verweigern die Regierenden im Rahmen des althergebrachten Konkordanzmodells seit Jahrzehnten dringend notwendige Reformen. Diese Reformblockade ist es, die in erster Linie für den Staatsbankrott verantwortlich ist. 
Das zentrale Problem der Volkswirtschaft blieb ungelöst: der Wertverfall des libanesischen Pfunds. Zum 1. Februar 2023 wertete die Zentralbank es gegenüber dem U.S. Dollar um 90% ab, nicht zuletzt, um die galoppierende Inflation in den Griff zu kriegen: Sie lag 2021 bei 154,8%. Die Staatsverschuldung lag nach offiziellen Angaben im Jahr 2020 bei 150,6% des Bruttoinlandsprodukts, das wiederum zwischen 2018 und 2021 um fast ein Viertel gesunken ist.

Drei politische Schwergewichte der Region befinden sich in einem strukturell ähnlichen Abwärtsstrudel: Ägypten, Iran und die Türkei (je -0,43). In allen drei Ländern ist ebenfalls die monetäre Stabilität ein Hauptproblem. Der iranische Rial (IRR), im offiziellen Gegenwert mit 42.000 IRR pro U.S. Dollar geführt, wurde im Außenhandel mit 260.000 IRR pro U.S. Dollar berechnet, also um das Sechsfache höher. Die Inflation erreichte 2022 offiziell 52,2%. Nach Einschätzung Dutzender iranischer Wirtschaftswissenschaftler hat die soziopolitische Lage inzwischen einen „explosiven Stand“ erreicht. 

In der Türkei, wo die Politik der Zentralbank mehrfach direkt von Präsident Erdoğan vorgegeben wurde, erreichte die Inflation im Jahr 2022 alarmierende 72,3%. Zwischen September 2021 und Oktober 2021 verfiel der Wert der türkischen Lira rasant, von 8,5 Lira auf 18,6 Lira pro U.S. Dollar. In Ägypten, das seine Währung bereits 2016 teilweise freigegeben hatte und im Folgenden wesentliche Abwertungen hinnehmen musste, sind die Tendenzen ähnlich: Nach der gänzlichen Freigabe des ägyptischen Pfunds verfiel dessen Wert gegenüber dem U.S. Dollar, zum Jahresende 2022 stieg die Inflation auf 21,3%. Die Zentralbank versuchte, mit mehreren Leitzinserhöhungen gegenzuhalten, bislang jedoch ohne erkennbaren Erfolg. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte lag 2021 bei 89,9% des BIP (2021). 

Fast überall gilt: Ein beträchtlicher Teil der Menschen lebt in relativer oder sogar absoluter Armut. Erzielte die Region im Indikator Sozialpolitik im BTI 2010 durchschnittlich noch 5,63 Punkte, liegt dieser Wert heute bei 4,79 – und dies bei parallel stark schrumpfender Wirtschaftskraft, die ein erneutes Allzeittief erreicht (4,58) und beträchtlich unter dem Wert des BTI 2010 (7,16) liegt.

Governance

Saudi-Arabiens zweischneidige Rolle

Die meisten Regierungen tun zu wenig gegen diesen umfassenden Problemkatalog. Im Sudan sank die Regierungsqualität um 1,75 Punkte und liegt nun sogar unter dem bereits extrem niedrigen Niveau der al-Bashir-Diktatur. Abd al-Fattah al-Burhan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, setzte sich im Oktober 2021 selbst als de facto Staatschef ein. Bei den Protesten gegen diesen Militärputsch erschossen Polizei und Sicherheitskräfte mindestens 124 Demonstrierende. Geberstaaten und -organisationen stoppten ihre Zusammenarbeit, auch die Afrikanische Union legte Sudans Mitgliedschaft auf Eis. Die neuen Machthaber legten zwar im Dezember 2022 ein „Framework Agreement“ für die Zusammenarbeit der Machteliten vor, dieses scheiterte aber, als im April 2023 zwischen al-Burhans Truppen und den „Rapid Support Forces“ (RSF) unter General Muhammad Hamdan Daglo ein bewaffneter Konflikt ausbrach und Sudan erneut in einen Bürgerkrieg stürzte. Mit seinem Militärputsch reiht der Sudan sich in eine Reihe von Ländern der Sahelregion ein, in denen sich Militärregierungen zu verankern scheinen.

Unter Tunesiens Machthaber Kais Saied verzeichnete die Regierungsqualität ebenfalls klare Rückschritte (-0,79). Mit Erstaunen registrieren Beobachter:innen dabei, dass nahezu niemand in Tunesien die Stimme erhob, als der ehemalige Rechtsprofessor systematisch die demokratischen Errungenschaften zurückdrehte, Militärgerichte wieder Regimekritiker aburteilten und selbst ehemalige Weggefährten mit Hausarresten, Reiseverboten und ähnlichen Schikanen kaltstellen ließ. Zu groß scheint die Angst vor einer weiteren Regierungszeit der islamistischen Ennahda-Partei zu sein, trotz aller ihrer Mäßigungsbeteuerungen. Dabei hat die aktuelle Regierung kaum Erfolge vorzuweisen.

Rückschritte im Governance-Index machten mit Algerien und Marokko auch zwei benachbarte Länder, die aufgrund des Konflikts um die Westsahara ein angespanntes Verhältnis zueinander haben. In beiden Fällen haben es die Regierungen verstanden, die Protestbewegungen lahmzulegen. Für Algerien ist dies insofern bedeutend, weil hier – ähnlich wie im Sudan – im Jahr 2019 der alternde Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika nach monatelangen Protesten zurücktreten musste und das Land Hoffnung auf nachhaltige Liberalisierung hatte. Diese ist inzwischen verflogen, das alte Regime in neuem Gewand ist unter Führung von Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune zurück an der Macht. Das monarchische Regime in Marokko um König Mohammad VI. hat ebenfalls seine Macht wieder zementiert. 

Im Iran verhindern ideologische Kurzsichtigkeiten eine dem Allgemeinwohl verpflichtete Regierungspolitik. Außenpolitisch bewirkten die Vorgaben des Wächterrats die Fortsetzung des Konfliktkurses gegenüber Saudi-Arabien mitsamt den militärischen Rivalitäten in Jemen, Libanon und Syrien. Inwieweit die unter chinesischer Vermittlung im Frühjahr 2023 verlautbarten Annäherungsschritte zu Saudi-Arabien eine Änderung dieser Konfrontationspolitik darstellen, bleibt abzuwarten. 

Saudi-Arabien ist derweil das einzige Land der Region, das im Governance-Index nennenswerte Fortschritte erzielt hat (+ 0,37), wenngleich von niedrigem Niveau aus. Als Teil der „Vision 2030“ treibt MbS die angestrebte Modernisierung mit markanten Schritten voran, ohne dabei das rigide Top-Down-Management autoritärer Governance in Frage zu stellen.

Ausblick

Auch jenseits der Annäherung an Iran spielt Saudi-Arabien als regionale Führungsmacht eine bemerkenswerte und ambivalente Rolle: Auf der einen Seite war das Land unter den Erstunterzeichnern der „Abraham Accords“, den Kooperationsabkommen einiger arabischer Staaten mit Israel, und hat die Wiederannäherung an Katar mit vorangebracht. Auf der anderen Seite hat sich das Königreich laut Länderbericht zu einem „zunehmend aggressiven Akteur“ entwickelt, der klar gegen missliebige Regierungen und Gruppierungen in anderen Ländern vorgeht. Das Land ist die Hauptstütze des ägyptischen Diktators Abd al-Fattah al-Sisi, hat den Jemen kaputtgebombt und – fast vergessen – 2017 die Destabilisierung der libanesischen Hariri-Regierung betrieben. Keine Frage: Saudi-Arabien trägt wesentlichen Anteil an dem regionsweit mangelhaften Demokratieniveau, und die gegenwärtige Führungsriege hegt kein Interesse an einer politischen Liberalisierung seiner Nachbarländer.

MbS ist dabei aber nicht der Einzige, der undemokratische Aktionen mit kosmetischen Reformen zu beschönigen sucht. Tunesiens Kais Saied gehört in diese Riege, Abd al-Fattah al-Sisi in Ägypten, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der marokkanische König Mohammad VI und Mohammed bin Zayid Al Nahyan, Emir von Abu Dhabi und Ministerpräsident der Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch Sheikh Hamad aus Katar. Diese Art der Regierungsführung hat keine Antworten auf die Fragen gerechter Machtausübung in der Zukunft. Da helfen auch keine Hochglanzpräsentationen zu elitären Zukunftsprojekten.